Eine verschneite Winternacht von Thomas König

 

Den ganzen Winter hat es bisher keinen Schnee gegeben, noch nicht einmal an Weihnachten. Doch seit Samstagnacht schneit es nun – und wie. Von meinem Fenster sehe ich in regelmäßigen Abständen die Winterdienstfahrzeuge auf der Hauptstraße vorbeifahren und im Radio ist von großflächigen Zugausfällen zu hören. Bei Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt ist der Schnee feucht und schwer. Aus dem „Buschfunk“ diverser WhatsApp-Gruppen ist zu hören, dass den Sonntag über praktisch jede Feuerwehr im Landkreis bereits mindestens einmal im Einsatz war, um Bäume zu beseitigen, die unter der Schneelast auf Straßen, Fahrzeuge und Häuser gestürzt sind. Einige kleinere durch Waldgebiete verlaufende Straßen werden gar komplett gesperrt, da die Gefahr durch weitere fallende Bäume zu groß ist. Bereits am Vortag haben wir auf unseren Gerätekraftwagen (GKW) Schneeketten aufgezogen, um im Fall des Falles unverzüglich ausrücken zu können. Für das THW bleibt es aber vorerst ruhig, die Feuerwehren haben die Lage im Griff und auf den Fernverkehrsstraßen herrscht wenig Verkehr, so dass auch die Polizei keine Unterstützung benötigt. Es ist bereits später Abend, als über unsere WhatsApp-Gruppe die Ankündigung des Ortsbeauftragten kommt „In Kürze Einsatz für die Fachgruppe E, Alarm folgt“. Ich gehöre zwar zur Bergungsgruppe, doch in unserem Ortsverband arbeiten im Einsatz alle zusammen und unsere neu aufgebaute Fachgruppe Elektroversorgung besteht bisher nur aus wenigen Helfern. Deshalb entschließe ich mich trotzdem in Richtung Ortsverband zu starten. Auf dem Weg zum Auto bekomme ich bereits den versprochenen Alarm auf mein Handy: „THL 1 – Allgemein, Stromausfall Tetra-Basisstation, benötigen Stromaggregat“. Fünf Minuten später bin ich an meinem Spind im Ortsverband und ziehe mich ohne Eile um. In der Funkzentrale erfahren wir von unserem stellvertretenden Ortsbeauftragten, dass sich die Basisstation für den BOS-Digitalfunk auf einem bewaldeten Berg befindet und  umgestürzte Bäume vor einigen Stunden die oberiridische Stromleitung gekappt haben. Die Akkus der Anlage haben wohl versagt und nun versorgt die Feuerwehr die Funkstation notdürftig mit Strom. Unser Zugführer und ein Fachberater sind mit unserem THW-Pickup bereits vor Ort und haben mit der Feuerwehr vereinbart, dass wir die Stromversorgung übernehmen, damit deren Fahrzeuge und Geräte wieder einsatzklar sind. Wir sollen nun unsere 58kVA-Netzersatzanlage sowie eine mobile Dieseltankstelle zu der Basisstation bringen. „Ein Job für dich, da fahr ich wieder heim“, sage ich zu Tobi, dem Kraftfahrer der Fachgruppe E. Der grinst voller Vorfreude. Doch wie wir erfahren, soll der Weg zum Funkmast so stark verschneit sein, dass wir Schneeketten brauchen. Der Zugführer hat deshalb angeordnet, das Stromaggregat mit dem GKW zu bringen. Die übrigen Helfer sollen den Mehrzweckkraftwagen (MzKW) ebenfalls mit Schneeketten ausstatten und dann mit einem zweiten Anhänger die Dieseltankstelle abliefern. Als Kraftfahrer der Bergungsgruppe habe ich bei uns im Ortsverband das traditionelle „Vorrecht“, wenn der GKW besetzt wird und so rangiere ich kurze Zeit später auf dem verschneiten Hof rückwärts an das 58kVA-Aggregat, einen kompakten Drehschemelanhänger. Da wir eigentlich nur das Aggregat abliefern sollen, fahren wir etwa 15 Minuten nach der Alarmierung mit sechs statt neun Helfern an Bord vom Hof. Die Übrigen bleiben im Ortsverband, um den MzKW und die Dieseltankstelle fertig zu machen und damit nachzurücken. Rechts neben mir auf dem Gruppenführerplatz sitzt Markus, unser Jugendbetreuer und ausgebildeter Unterführer Elektroversorgung. Beim Blick nach hinten stelle ich fest, dass mit Tobi, Christian, Laura und Benedikt vier ehemalige Junghelfer mit dabei sind, die ich aus vielen gemeinsamen Ausbildungen und Übungen gut kenne. Dieser Umstand und die Tatsache, dass wir wegen der Schneeketten mit gemütlichen 30 bis 50 km/h durch die dunkle und tief verschneite Landschaft rollen, sorgen für eine entspannte Anfahrt. Ich habe die Fenster geöffnet, um ungewöhnliche Geräusche der Schneeketten gleich zu hören und das gleichmäßige Rasseln verstärkt den Eindruck einer winterlichen Schlittenfahrt. Das Blaulicht läuft zwar, allerdings eher als Warnung vor unserer geringen Geschwindigkeit, denn die Straßen sind größtenteils gut geräumt und die wenigen Fahrzeuge, die unterwegs sind, überholen uns meist nach kurzer Zeit. Obwohl wir wegen einer Straßensperre einen Umweg fahren müssen, erreichen wir nach etwa 30 Minuten das Gerätehaus der kleinen Ortsfeuerwehr, die sich am nächsten an der Funkstation befindet, wo wir bereits erwartet werden. Alex, unser Zugführer, bittet Markus und mich, mit ihm vorab hoch zum Funkmast zu fahren, um die beste Anfahrtsroute für unser großes Gespann festzulegen. Auf dem schmalen Waldweg wird uns klar, warum wir Schneeketten brauchen werden: Der Schnee liegt 30 cm tief und es geht steil bergauf. Trotz Allradantrieb und Geländereifen kommt der Pickup mehrmals leicht ins Rutschen. Oben angekommen sehen wir, dass der Rüstwagen einer Stützpunktfeuerwehr den Funkmast mit seinem eingebauten Aggregat mit Strom versorgt. Klar, der soll hier natürlich nicht lange stehen bleiben, sondern für andere Einsätze freigehalten werden. Um die Station herum ist nicht viel Platz, die freie Fläche reicht gerade aus, um neben dem Rüstwagen unsere Netzersatzanlage zu platzieren. Dafür müssten wir aber entweder das Aggregat die letzte Wegstrecke rückwärts schieben oder oben angekommen ein Wendemanöver versuchen. Das Rückwärtsrangieren schließe ich aufgrund meiner bisherigen Erfahrungen mit Lkw-Anhängern schnell aus, doch auch für das Wendemanöver wird der Platz eng werden. Eine senkrecht zum Weg verlaufende Rückegasse, in der unter dem Schnee noch zahlreiche Baumstümpfe stehen, bildet die einzig verfügbare Bewegungsfläche – muss aber irgendwie reichen. Zurück am Feuerwehrhaus steigen Markus und ich wieder in den GKW um und wir starten in den spannenden Teil des Einsatzes. Als der Schnee höher und der Weg steiler werden bleibe ich stehen, schalte den Allradantrieb, die Geländeuntersetzung und die Differentialsperren zu – jetzt bin ich über das Geländefahrtraining im letzten Jahr froh. Im Schneckentempo geht es den Berg hoch, doch der GKW schlägt sich tapfer und bleibt in der Fahrspur. Bei der Funkstation angekommen wird es richtig spannend, ich muss den Anhänger praktisch um 180 gedreht abstellen. Beim Einfahren in die Rückegasse bleibt das linke Hinterrad an einem großen Baumstumpf hängen. Ich setze ein Stück zurück und Tobi schneidet den Stumpf mit der Motorsäge soweit zu, dass der LKW-Reifen darüber kommt. Beim Rangieren stelle ich nun den Nachteil der vorderen Differentialsperre fest, trotz vollem Lenkeinschlag schiebt der GKW geradeaus weiter. Beim Vorziehen springt mir plötzlich einer der Feuerwehrleute vor den LKW: „Stopp! Hier kommt eine Stufe“ – „Wie Stufe?!“ – „Da geht’s einen Meter runter!“ Glück gehabt, das wäre schlecht ausgegangen, doch zumindest steht das Gespann nun gerade in der Rückegasse. Jetzt muss die Netzersatzanlage nur nochmal um die Ecke rückwärts neben den Funkmast. Mehrmals rutscht das Heck des Anhängers beim Zurücksetzen in die gleiche Mulde hinter dem Weg. Trotz offener Fenster ist mir inzwischen ziemlich warm geworden und ich habe die Einsatzjacke zwischen zwei Rangierzügen ausgezogen. Dann endlich klappt es und das Gespann rollt in die richtige Richtung ohne abzurutschen oder anzustoßen. Noch ein Korrekturzug, dann endlich die Anweisung „Passt, das kann so stehen bleiben!“. Wir kuppeln den Anhänger ab und während die anderen das Aggregat an die Funkstation anschließen, unterhalte ich mich kurz mit Tom, unserem Gruppenführer Räumen und heute Fahrer des mittlerweile eingetroffenen MzKW, der zusammen mit dem Truppführer Elektroversorgung ebenfalls die Zufahrt erkundet. Sie entschließen sich, den Anhänger mit der Dieseltankstelle an der letzten Wegkreuzung an das vordere Rangierzugmaul des MzKW zu kuppeln und den Anhänger dann das letzte Wegstück rückwärts zu schieben. „Gute Idee“, denke ich, „aber mit meinem Drehschemelanhänger hätte das auch nicht so einfach funktioniert.“ Um an der Funkstation Platz zu schaffen, fahren wir mit dem GKW wieder ein Stück den Berg hinunter, bevor die zweite Gruppe startet. Während Markus sich noch einmal mit Alex bespricht, beobachten wir, wie sich nun der MzKW mit dem vorne angekuppelten Anhänger den schmalen verschneiten Weg hochquält. Trotz Allradantrieb und Schneeketten rutscht das Heck mehrmals seitlich weg, bis auch Tom alle Differentialsperren einlegt. Ich bin stolz auf meinen GKW, der deutlich älter und weniger geländetauglich ist und sich heute gut geschlagen hat. Markus kommt zurück und gibt das Signal zum Aufbruch, wir werden nicht mehr gebraucht und machen uns auf den Weg zurück zur Unterkunft.

 

Inzwischen ist es kurz vor Mitternacht, die Stimmung im Fahrzeug ist gelöst, wir haben unseren Auftrag erfüllt und nun geht es nach Hause ins Bett. Ohne Blaulicht, doch mit immer noch gleichmäßig rasselnden Schneeketten rollen wir durch leichtes Schneetreiben. Kurz vor einem Waldstück kommt uns ein LKW entgegen. Als er uns bemerkt, blendet der Fahrer mehrmals auf und wird langsamer. „Was will der denn?“, fragt Markus wenig begeistert. „Vielleicht liegt da vorne ein Baum quer und er will uns warnen“, vermute ich. Als wir Tür an Tür zum Stehen kommt, lässt der Fahrer die Seitenscheibe herunter: „Hallo, ich hab da hinten vorhin im Wald links neben der Straße zwei rote Lichter gesehen. Vielleicht könnt ihr mal schauen, nicht, dass da ein Auto drinliegt. Ich muss weiter.“ Dann fährt er schon wieder an. Sofort sind wir alle angespannt. Falls da tatsächlich ein Auto von der Straße abgekommen ist, haben wir gleich alle Hände voll zu tun. „Ok, alle mitbekommen? Da soll irgendwo ein rotes Licht im Wald sein.“, ruft Markus nach hinten in den Mannschaftsraum „Blaulicht und Umfeldbeleuchtung an, zu beiden Seiten Ausschau halten.“ Langsam fahre ich weiter, während alle konzentriert den Wald zu beiden Seiten der Straße beobachten. Ein paar hundert Meter sehen wir nichts als Dunkelheit und verschneite Bäume, dann deutet Markus plötzlich nach rechts: „Da vorne, 30 m  vor uns, rechts unten an der Böschung, da leuchtet was!“ Tatsächlich, dort ist durch die Bäume ein schwaches rotes Leuchten zu sehen. Als wir auf gleicher Höhe sind, halte ich an. Nun ist es deutlich zu erkennen, etwa 4 Meter unterhalb der Straße steht ein Pkw mit eingeschalteten Rückleuchten im Wald. Direkt vor unserem GKW entdecke ich nun auch auf der leicht verschneiten Fahrbahn Reifenspuren, die von der Gegenspur ins Bankett und die Böschung hinunter führen. „Ok, ich gebe Rückmeldung an die Leitstelle, du gehst mit Christian erkunden. Tobi Lichtmast ausfahren, Laura und Benedikt in beide Richtungen Faltdreiecke aufstellen“, gibt Markus seine Anweisungen. „Notfallrucksack und Handscheinwerfer mitnehmen“ rufe ich zu Christian nach hinten, während ich mir aus der Ladehalterung neben dem Fahrersitz ein Handfunkgerät schnappe und meine Mütze gegen den Helm tausche. Gemeinsam rutschen wir die verschneite Böschung hinunter und stapfen die wenigen Meter zu dem Kleinwagen. Im Licht unserer Helmlampen und der Handscheinwerfer erkennen wir, dass sich die Fahrzeugfront in einen Baum verbissen hat und ziemlich verformt aussieht. Die Fahrertüre ist verzogen und lässt sich nicht öffnen, durch die Seitenscheibe erkennen wir allerdings, dass sich eine reglose Gestalt auf dem Fahrersitz befindet. Als Tobi die Scheinwerfer des Lichtmastes auf den Pkw ausrichtet, wird es um uns hell. Ich wische den Schnee von der Frontscheibe, drücke mein Gesicht an das Glas und klopfe kräftig. Die Person rührt sich nicht, Mist! „22/91 von 22/51“ – „hört“ – „Pkw frontal gegen Baum, eine Person im Fahrzeug, nicht ansprechbar, Türen nicht zu öffnen. Wir brauchen hier Rettungsgerät, Feuerwehr und Rettungsdienst“ – „ Verstanden, einmal eingeklemmt nicht ansprechbar, Rettungsgerät, Feuerwehr und Rettungsdienst kommen.“ Zwar haben wir die Rettung aus einem Pkw oft geübt, doch hatte keiner von uns bisher einen entsprechenden Einsatz. Ich bespreche mich kurz mit Christian. Ich werde bei dem Pkw bleiben und die Lage genauer erkunden, während er dabei helfen soll, das benötigte Gerät an Ort und Stelle zu bringen. Mit sechs Helfern wird das hier ganz schön knapp. Ich laufe einmal um das Fahrzeug herum. Ein Kleinwagen, vier Türen und der Kofferraum als Zugänge, Benzinantrieb, Motor aus, Zündung an, wie die leuchtenden Rücklichter verraten. Beim erneuten Blick ins Fahrzeuginnere durch die Front- und Seitenscheibe stelle ich fest, dass Fahrer- und Beifahrerairbag durch den Aufprall ausgelöst wurden. Die Person auf dem Fahrersitz ist eine Frau, wie mir nun auffällt, der Sicherheitsgurt ist noch angelegt. Sie rührt sich immer noch nicht, atmet aber, wie ich zu erkennen glaube. Da die Türen nicht aufgehen, werde ich durch den Kofferraum einsteigen müssen. Um Erschütterungen zu vermeiden, will ich aber warten, bis wir das Fahrzeug mit Holz unterbaut haben. Die Heckscheibe schlage ich mit dem Dorn an meinem Rettungsmesser bereits ein. Auch wenn mich die Fahrerin vermutlich nicht hört, rufe ich ihr durch die Seitenscheibe zu, dass es nun mal laut knallen wird. Weder das noch die zerspringende Heckscheibe führen aber zu einer Reaktion. Ich schiebe Handscheinwerfer und Notfallrucksack durch die Öffnung in den Kofferraum, dann sehe ich mich nach den anderen um. Sie haben mit Steckleitern eine Rampe auf der Böschung gebaut, über die Tobi und Laura gerade an zwei Leinen die mit Geräten gefüllte Bergewanne herunterlassen. Markus und Benedikt schleppen gerade das Hydraulikaggregat heran, das als nächstes heruntergelassen werden soll. Christian rutscht daneben wieder zu mir herunter und ich laufe zurück zur Böschung. Gemeinsam tragen wir die Kiste mit Unterbauhölzern und einen Akkuscheinwerfer zum Unfallfahrzeug. Während Christian Feuerlöscher, Halligan Tool und Glasmanagement-Werkzeug holt, beginne ich, mit den Unterbauhölzern das Fahrzeug zu stabilisieren. Als der Pkw fest auf den Holzklötzen steht, klettere ich durch die Heckscheibe in den Kofferraum und von dort auf die Rücksitzbank. Nun kann ich mir unsere Patientin näher ansehen: Sie ist etwa Mitte Zwanzig, immer noch nicht ansprechbar, atmet jedoch und ich kann sowohl am rechten Handgelenk als auch am Hals den Puls fühlen. Tastbarer Puls am Handgelenk bedeutet, dass der obere Blutdruckwert mindestens bei 80 mmHg liegt, erinnere ich mich. Nicht toll, aber immerhin. Ich lege ihr eine Halskrause an und klemme das Pulsoxymeter an den Zeigefinger der rechten Hand. Die Hand fühlt sich kalt an, so dass den Werten des Gerätes nicht zu trauen sein wird. Viel mehr kann ich allerdings gerade nicht machen. Mit dem Handscheinwerfer suche ich kurz noch kurz nach offensichtlichen starken Blutungen, bevor ich mich dem Fahrzeug zuwende: Warnblinker an, Seitenscheiben nach unten fahren. Die Scheibe der Fahrertür klemmt im verzogenen Türrahmen, blöd. Zündschlüssel abziehen. Beim Blick in den Fahrerfußraum stelle ich fest, dass sich hier durch den Unfall einiges verschoben hat und die Beine unserer Patientin eingeklemmt sind. Inzwischen sind die anderen mit den restlichen Rettungsgeräten herunter gekommen und Markus` Kopf taucht neben meinem Fenster auf: „Wie siehts aus?“ – „Nicht ansprechbar, atmet, Puls peripher tastbar, Beine eingeklemmt. Schnelle Rettung.“ – „ Wie siehts mit Airbags aus? – „Fahrer und Beifahrer offen, Seitenairbag in der B-Säule, Zündung ist aus.“ – „Gut, Feuerwehr mit Rettungsspreizer kommt aus der Gegenrichtung, haben allerdings grad gemeldet, dass bei ihnen Bäume querliegen, dauert also noch. Aus unserer Richtung kommt die Ortsfeuerwehr von eben, allerdings ohne Rettungsgerät. Und der Alex hat mich angerufen, was hier los ist. Der schickt auch ein paar Leute mit. Wir müssen also allein anfangen.“ – „Na dann, ich würd eine große Seitenöffnung vorschlagen. Dann bleibt das Dach gegen den Schnee drauf.“ Laura reicht mir einen Schutzhelm für unsere Patientin, eine Plane und ein kleines Kunststoffschutzschild. Christian klebt bereits eine Folie auf die Seitenscheibe der Fahrertüre, während Tobi und Benedikt die Hydraulikschläuche des Rettungsspreizers und der Rettungsschere mit dem Hydraulikaggregat verbinden. Markus platziert den zweiten Akkuscheinwerfer an der Beifahrertüre und geht dann mit dem Feuerlöscher und dem Funkgerät in Position und beobachtet das Auto und die Bäume in der Umgebung, denn hin und wieder ist von oben ein bedrohliches Knarzen der schneebeladenen Äste zu vernehmen. Ich setze der Patientin den Helm auf und breite die durchsichtige Schutzplane über sie und mich aus. Ich schiebe das Plastikschild zwischen Patientin und die Fahrertüre, Christian setzt den Federkörner an: „Achtung, Glas!“ Die gesplitterte Scheibe lässt sich mühelos mit dem Schutzschild nach außen drücken. Ich schiebe das Schild an die Innenseite der B-Säule neben dem Fahrersitz. Während Christian und Tobi mit Rettungsspreizer und Halligan Tool die hintere linke Türe öffnen, entferne ich zusammen mit Laura die Innenverkleidung der B-Säule, um den dort verbauten Seitenairbag freizulegen. Den sollten wir beim Durchtrennen der B-Säule später besser nicht auslösen. Das Schloss der hinteren Türe ist geknackt und sie lässt sich öffnen. Als nächstes müssen wir die B-Säule oben und unten durchtrennen, damit wir sie zusammen mit beiden Türen um die vorderen Türscharniere wegklappen können. Erst unten so weit wie möglich einschneiden, dann mit dem Spreizer zwischen der Säule und der Befestigung des Fahrersitzes ansetzen, um den Rest des breiten Säulenfußes abzureißen. Bevor Tobi die Rettungsschere oben an der Säule ansetzt, durchtrenne ich mit meinem Messer noch den Sicherheitsgurt der Fahrerin. Benedikt bereitet währenddessen die Bergewanne mit Decken und Schaufeltrage für die Rettung vor. Gerade als wir die gesamte Fahrerseite wegklappen, kommen unser Zugführer Alex und ein Feuerwehrgruppenführer die Böschung heruntergeschlittert. Von uns unbemerkt ist er mit dem Pickup zusammen mit dem Löschfahrzeug der Ortsfeuerwehr und einem Rettungswagen oben an der Straße eingetroffen. Die Pickup-Besatzung fährt mit einer Kettensäge aus dem GKW der Stützpunktfeuerwehr entgegen, um notfalls weitere Bäume von der Straße zu räumen. Gleichzeitig bauen die Feuerwehrleute ihren Lichtmast, eine zweite Rampe aus Leiterteilen und einen Löschangriff zur Sicherstellung des Brandschutzes am Unfallfahrzeug auf. Die beiden Notfallsanitäter klettern mit ihrer medizinischen Ausrüstung ebenfalls zu uns herunter. Alex übernimmt nun das Kommando bei der technischen Rettung. Wir besprechen uns kurz mit dem Rettungsdienst und entscheiden, unseren Befreiungsplan fortzusetzen, um die bewusstlose Patientin so schnell wie möglich in den Rettungswagen zu bringen. Ein Notfallsanitäter rutscht auf den Beifahrersitz, um von hier einen intravenösen Zugang für eine Infusion zu legen, während die junge Frau über das auf dem Dach platzierte Beatmungsgerät und eine Maske Sauerstoff erhält. Wir arbeiten gleichzeitig an der Befreiung der eingeklemmten Beine. Mit der Rettungsschere setzt Tobi zwei horizontale Schnitte in die A-Säule knapp oberhalb des Schwellers. Das Material dazwischen lässt sich mit dem Spreizer packen und nach außen biegen. In der Mitte der Frontscheibe wird ein weiterer Entlastungsschnitt an der A-Säule geführt. In das entstandene Fenster setzen Christian nun den Rettungsspreizer vertikal ein und kann so den gesamten Vorbau auf der Fahrerseite nach vorne und nach oben drücken. Etwa 10 cm Spreizweg sind nötig, um die Beine der Patientin zu befreien. Während Laura und Benedikt die scharfen Schnittkanten oben und unten an der B-Säule abdecken, können Markus und ich die Rückenlehne mit dem Handrad nach hinten drehen und die Kopfstütze des Fahrersitzes entfernen. Auf das Kommando des Notfallsanitäters, der die Stabilisierung des Kopfes übernommen hat, schieben wir die bereitliegende Schaufeltrage zwischen den Rücken der Patientin und die Rückenlehne. Anschließend wird der gesamte Körper vorsichtig nach oben gezogen, bis sie vollständig auf der Trage liegt. Nun können wir die Patientin seitlich aus dem Fahrzeug heben und in die Bergewanne legen. Mit Unterstützung der Feuerwehrleute ziehen wir die Bergewanne über die Steckleitern die Böschung hoch zur Straße. Dort wird die Patientin in die auf der Fahrtrage vorbereitete Vakuummatratze gebettet und in den Rettungswagen geschoben. Dort übernehmen die beiden Notfallsanitäter die weitere Untersuchung und Versorgung – geschafft. Als wir die Hecktüren des Rettungswagens schließen, ist hinter der nächsten Kurve das Flackern zahlreicher Blaulichter in der Dunkelheit zu sehen. Eine Minute später tauchen unser Pickup, der Feuerwehr-Rüstzug und ein Notarzteinsatzfahrzeug hinter der Straßenbiegung auf. Während der Notarzt direkt zum Rettungswagen eilt, klärt Alex mit dem Feuerwehr-Einsatzleiter das weitere Vorgehen ab. Wir entlassen uns selbst in eine verdiente Pause und bedienen uns an der Getränke-Notration aus dem GKW. Wir sind zu erschöpft, um viel zu reden und müssen den gerade erlebten Stress erst einmal verarbeiten. Nachdem sie das Unfallfahrzeug besichtigt haben, kommen Alex und der Einsatzleiter zu uns. „Das habt ihr echt gut gemacht, hätten wir auch nicht besser gekonnt. Gut, dass ihr hier vorbei gekommen seid. Die Fahrzeugbergung mit dem Abschleppdienst übernehmen wir. Ihr könnt eure Geräte dann abbauen.“ Dieses Lob vom erfahrenen Einsatzleiter einer „Autobahnfeuerwehr“ hebt die Stimmung im Team gewaltig und verschafft uns die nötige Energie für den anstehenden Rückbau unserer Ausrüstung. Während wir alles wieder auf dem GKW verladen, machen sich Rettungswagen und Notarzt auf den Weg ins Krankenhaus. Ein Löschfahrzeug begleitet sie, um auf dem Weg zur Autobahn bei Bedarf weitere umgestürzte Bäume von der Straße zu räumen.

 

Eine Stunde später erreichen wir müde und erschöpft die THW-Unterkunft. Inzwischen ist es weit nach Mitternacht und alle wollen nur noch ins Bett. Unsere Nachbesprechung verschieben wir deshalb auf den nächsten Dienstabend. Neben weiterem Lob von Alex und unserem Ortsbeauftragten erfahren wir hier auch weitere Hintergründe zu dem Einsatz. Die junge Frau war wohl auf dem Heimweg aus der Spätschicht, als sie auf der verschneiten Fahrbahn von der Straße abgekommen ist. Über Kontakte beim Rettungsdienst ist zu erfahren, dass sie das Krankenhaus gut erreicht hat und trotz schwerer Verletzungen auf dem Weg der Besserung ist. Außerdem hat uns die Stützpunktfeuerwehr, die durch zahlreiche umgestürzte Bäume aufgehalten wurde, für das Frühjahr zu einer gemeinsamen Einsatzübung zur Unfallrettung eingeladen.

 

 

 

Nachwort: Der geschilderte Einsatz hat sich zu großen Teilen tatsächlich so abgespielt, einschließlich des Zusammentreffens mit dem Lkw-Fahrer auf der Rückfahrt. Die roten Lichter im Wald haben wir ebenfalls gefunden, doch stellten sie sich zum Glück als Warnleuchten einer Absperrbake heraus, mit der ein abzweigender Forstweg gesperrt worden war. Hätte es sich allerdings tatsächlich um ein verunfalltes Fahrzeug gehandelt, wäre der folgende Einsatz vermutlich ähnlich abgelaufen, wie hier geschildert. Auf der weiteren Rückfahrt haben wir stattdessen nur noch einen umgestürzten Baum von der Straße geräumt.